Letztes Jahr ist Gerhard Mayer-Vorfelder verstorben. In den USA gab es die Band Punk-/HC-REAGAN YOUTH. In der Schweiz gab es in den frühen 90ern ein Punk-Fanzine namens BLOCHER YOUTH. Ich hab mir immer vorgestellt, dass meine "Youth" VORFELDER YOUTH heißen würde, wenn ich sie nach jenem Punk-Motto bezeichnen wollen würde.
"MV" war als Kultusminister von Baden-Württemberg ab der frühen Grundschulzeit mein Begleiter in allen schulischen Dingen. Seine Unterschrift und sein Konterfei auf Urkunden von Bundesjugendspielen, offiziellen Anschreiben, uswusf. Auch als Präsident des VfB Stuttgart war er allgegenwärtig. Und als Landtags-Kandidat für den Wahlkreis Stuttgart 2 hing sein Gesicht alle paar Jahre in unseren Straßen herum. Ich erinnere mich, dass ihm dabei mindestens einmal ein (Hitler-)"Bärtle" gemalt wurde. Denn "MV" galt (und war es sicher auch) als rechts-konservativ. Für mich verkörperte er auch geradezu die von mir damals wahrgenommene vorherrschende stockkonservative Mentalität in Stuttgart.
Ich bin nicht mehr oft in Stuttgart, aber ich habe den Eindruck, dass das Stockkonservative schon längst nicht mehr die allein dominierende Mentalität ist. Abzulesen auch an den Protesten gegen Stuttgart 21 und generell den Wahlergebnissen der letzten Jahre. Ganz und gar nicht zu jenem Bild des harten Knochens passte ein Interview mit ihm, das ich einst im SWR-Fernsehen sah. In dem er sehr persönlich berichtete, wie er im Kreise von Sportkameraden gern singe. Kurz danach traf ich ihn auch mal persönlich auf der Straße in Stuttgart-West und wir begrüßten uns kurz.
Noch zu seinen Lebzeiten, im Jahr 2012, veröffentlichte "MV" seine Erinnerungen unter dem Titel "
Ein stürmisches Leben". Es war nicht unbedingt Sympathie, aber wohl Neugier, die mich dazu brachte, es mir zu Weihnachten zu wünschen. Sein Tod hatte ihn mir zurück ins Gedächtnis gerufen. Und ebenso der peinliche, Mitleid-erregende Auftritt von Wolfgang Niersbach in der Presse-Konferenz zum Skandal um die WM 2006. Wie sehr hätte ich mir da einen mit allen Wassern gewaschenen Profi wie "MV" an dessen Stelle gewünscht!
Nun habe ich es durch; die knapp 200 Seiten ließen sich sehr zügig lesen, und es war manches Interessante dabei. In nicht immer chronologischer Reihenfolge berichtet er über seine Kindheit und Jugend (1944 als 11-jähriger schon Anführer seiner Jung-Schar), über frühe Reisen ins Ausland (v.a. Frankreich), Studienzeit (Abneigung gegen Tübingen, Begeisterung für Heidelberg), Referendarszeit, beginnende Tätigkeit am Landratsamt Nürtingen. Von dort aus dann Ruf in die Politik, und fortan tätig im Umfeld von Menschen wie Manfred Rommel, Hans-Karl Filbinger, Lothar Späth, Erwin Teufel. Er lässt dabei manche seiner Grundüberzeugungen durchblicken, und das sind die Abschnitte, die man in einem Buch wie diesem sicher besonders sucht. Hart zu sein, konsequent zu sein, bei seinen Überzeugungen zu bleiben, auch wenn das einem die aktuelle Lage nicht unbedingt leicht macht. Oder wenn er die Tätigkeit unter Filbinger idealisiert, eine nach seinen Schilderungen nach innen völlig offene Diskussion, in der um die beste Lösung gerungen wurde. Nach außen hin dann jedoch ein geschlossenenes Auftreten, in dem sich die Truppe nicht auseinanderdividieren ließ. Auch seine Charakterisierungen der badischen ("eher katholisch-lebensfroh") im Gegensatz zur württembergischen ("eher evangelisch-piätistischen") Lebensweise ist interessant.Von diesen persönlichen Grundüberzeugungen hätte ich gern mehr gelesen.
Unter Filbinger ist er - auf Vermittlung von Manfred Rommel - zunächst persönlicher Referent, ab 1976 - 1978 (als Filbinger abtreten musste) Staatssekretär mit Kabinettsrang im Finanzministerium. 1980 wird er Kultus- und Sportminister unter Lothar Späth, ab 1991 Finanzminister unter Erwin Teufel. In all den Jahren scheint er ein Anhänger von Filbinger geblieben zu sein: Lothar Späth erscheint ihm als zu unstet, zur Zusammenarbeit mit Erwin Teufel äußert er sich eher unzufrieden. Rufe in die Bundespolitik (u.a. in den späten 80ern) habe er stets abgelehnt aus dem Gedanken an seine Familie, die in Zeiten der Bedrohung durch die RAF nur mit Personenschutz hätte leben können.
Bitter getroffen müssen ihn auch die Auseinandersetzungen mit der organisierten Lehrerschaft in seiner Zeit als Kultusminister haben, denn feindlich-gesinnte Zeilen gegen die GEW und links-orientierte Lehrer ziehen sich bis in dieses Buch, das 32 Jahre nach seinem Antritt 1980 (und 21 Jahre nach seinem Wechsel ins Finanzministerium 1991) erschien. Angeblich wurden auch seine vier Kinder Opfer von "Feindseligkeiten" der Lehrer-Seite, so dass diese schließlich aufs katholische Albertus-Magnus-Gymnasium in Sommerrain wechselten. Dennoch ist es für mich nicht wirklich zu begreifen, warum er mit dieser Auseinandersetzung - die er auch immer wieder offensiv geführt hat, was ihm sicher bewusst gewesen ist - offenbar keinen Frieden schließen konnte. Ich bin in eben jenen Jahren zur Schule gegangen (als es im Buch um "Mengenleere" geht, sehe ich mich aus dem Grundschulfenster blicken!) und kann nicht sagen, dass ich viele übermäßig linke Lehrerinnen und Lehrer gehabt hätte. Insofern muss da eine tief persönliche Verletzung stattgefunden haben. Oder es ging ihm als Konservativen zu sehr gegen den Strich, dass Lehrerinnen und Lehrer linke, sozialistische Vorstellungen gehabt haben. Und die Schüler diesen ausgesetzt waren! Auch dass er Filbinger vorbehaltlos unterstützt, und dessen Rolle als Richter zur NS-Zeit einzig aus der legalistischen Sicht und nicht auch aus der Sicht der Opfer zu betrachten vermag, ist mir - auch wenn ich eine konservative Warte zugrunde lege - letztendlich zu wenig. Von einem aufgeklärten Konservativen möchte ich schon erwarten, dass er einsieht, dass es auch andere Meinungen gibt und diese auch eine Berechtigung haben.
Fußball, also der VfB Stuttgart, die Fußball-Nationalmannschaft und der DFB, nehmen im Buch eine zweite größere Rolle ein. Hierbei sind die interessantesten Bereiche die, in denen er aus dem Nähkästchen plaudert. Etwa von seiner Bewunderung für Menschen wie Jürgen Sundermann, Christoph Daum oder Jürgen Klinsmann. Nicht allzusehr zwischen den Zeilen versteckt ist eine Abneigung gegen Franz Beckenbauer, der angeblich interne Vereinbarungen in den 2000er Jahren umgehend an die BILD-Zeitung weitergab. Ansonsten nennt er Ulrich Maurer (in den 1990er Jahren SPD, heute Linkspartei) im Buch einen "Armleuchter". Und kritisiert den Kurs von Angela Merkel, der er vorwirft, die CDU zu einer "Partei der Beliebigkeit" gemacht zu haben, die den konservativen Kern abgeschmolzen habe und der "kurzfristige Erfolge wichtiger" seien "als Prinzipien und Werte". Voller Bewunderung ist er hingegen für Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Dem amtierenden grünen Ministerpräsidenten Kretschmann hält er zugute, dass dieser ihn einst gegen Nazi-Vorwürfe aus der grünen Partei verteidigt habe, und attestiert ihm, ein "grundsolider Politiker" und "Mensch mit wertkonservativen Wurzeln" zu sein.
Es lohnt sich, dieses Buch ein zweites Mal zu lesen, ich werde das gewiss bald tun. Letztendlich ist es aber ein Blick in die Vergangenheit. Paternalistisch, unnachgiebig, streng. Ehrfurcht, teils Angst auslösend. Manchmal auch durchaus rassistisch. Es wäre interessant zu erfahren, wie sich "MV" in der aktuellen Flüchtlingsfrage positionieren würde. Oder gegenüber eines nihilistischen islamistischen Terrors, der alle konservativen Überzeugungen, die Welt sei beherrschbar, unwirksam erscheinen lässt. Zumal sich heutzutage eine CDU-geführte Bundesregierung außerstande sieht, Landesgrenzen zu kontrollieren. Die Ära Mayer-Vorfelder ist vorbei, und auch die der Mentalität, die er verkörperte. Ob es im Zuge von "Pegida" und "AFD" zu einem bürgerlich-konservativen Rollback kommen wird, erscheint eher unwahrscheinlich. Da droht eher der - noch gefährlichere - Aufstand des Plebs.
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