Die Frau bricht sehr frühzeitig auf, kommt aber irgendwann
nochmal zurück, wir reden kurz, sie
vermisst ihren Hut. Das Minimal-Frühstück, bestehend
ausschließlich aus Marmelade-Broten, spare ich mir heute, trinke stattdessen
nur einen Tee. Eine Familie aus Fellbach, die ich bereits gestern kurz kennengelernt
hatte, begrüßt mich freundlich. Der Großvater gibt etwas den „grand seigneur“
und lässt mit schwäbischem Understatement erkennen, dass er die Gegend sehr gut
kennt. Ich befrage ihn zum „Leckner See“, den ich heute ansteuern will. Ob man
da baden könne, und wie man da am besten hinkomme. Er berichtet Dinge, die sich
als nicht ganz zutreffend herausstellen, ich fühle mich aber dennoch bestätigt,
den steilen Abstieg von rund 800 Höhenmetern auf mich zu nehmen. Er kommt noch
auf die Flüchtlingskrise zu sprechen, und es ist zu spüren und fast schon
drollig zu beobachten, wie sorgsam er jedes Wort
wählt. Wir einigen uns letztendlich diplomatisch
darauf, dass einem „Oasen“ wie diese Berghütte niemand wegnehmen wird, man sie
aber pflegen muss.
Es geht einen wirklich steilen Weg hinab, zunächst über Almwiesen, später durch
den Wald - dort überquert man übrigens die inzwischen grüne Grenze zu Österreich - und im Tal kommt man dann an einer kleinen Ortschaft vorbei zum
Leckner See. Im Tal sind gleich ganz andere Menschen zu beobachten, nämlich
Familien mit Kindern und Hunden, Rentner und Radfahrer. Als der Leckner See
malerisch vor mir liegt, entdecke ich leider keinen Zustieg, nur am unteren
Ende eine Stelle, an der mehrere
Bänke stehen. Ich gehe zu dieser Stelle, treffe
dort auf ein älteres Ehepaar, grüße kurz, hoffe aber, dass sich dieses
möglichst bald verpfeift. Denn ich möchte ja baden, das jedoch nicht vor deren
Augen und womöglich unter deren Protest. Etwa eine halbe Stunde koexistieren
wir friedlich auf Bänken nebeneinander, bis der Mann seine Schuhe auszieht und
durch das Wasser watet. Das ist natürlich die Chance für mich, das Thema
„Baden“ anzusprechen. Beide stellen sich als sehr nett heraus, wohnen nicht am
Ort, aber in der Nähe Richtung Bregenz. Er geht davon aus, dass das Baden hier
an dieser Stelle „nicht erlaubt“ ist, und wenn er das sagt, klingt es so, als
ob er sich selbstverständlich auch daran halten wird und das auch von jedem
anderen erwartet.
Mehr zum Schein frage ich ihn, ob wohl an jener Stelle weiter hinten, wo ein
kleiner Kiesstrand zu sehen ist, das Baden erlaubt sei. Er meint, es sehe so
aus, als ob dieser extra dafür eingerichtet worden sei, und gibt mir damit
quasi das Plazet, dort baden zu gehen. Nicht wissend, dass man einen Zaun
übersteigen muss, um dorthin zu gelangen. Es ist nur ein halbhoher Weidezaun,
aber ich gehe davon aus, dass es sicher nicht wirklich erlaubt ist.
Ich verabschiede mich dann an jene Stelle, die beiden Senioren gucken mir beim
– genüsslichen! - Schwimmen zu, eine vorbeikommende Frau fotografiert mich - zu
welchem Zweck auch immer - auch noch dabei. Als ich wieder heraussteige, winke
ich den beiden zu, und sie winken mir wie euphorisch zurück. Ein Bild, das mich
bis heute anrührt.
Mit frisch erfrischten Gelenken starte ich – auf den Rat des grand seigneurs
vertrauend – einen alternativen Weg zurück. Auf einer Halbhöhenlage lasse ich
mich an einem Baum nebst einem Weg nieder und genieße einfach den Tag, das
schöne Wetter, die schöne Umgebung und dass absolut niemand in meiner Nähe ist.
Ich habe offenbar einen Zwischenbereich erreicht zwischen der familienfreundlichen
Talstufe und der teils doch von sportiver Hektik geprägten Höhenstufe. Keine
Sau ist da, ich liege am Baum, höre Musik, lese ein Kapitel in einem Buch und
gebe den Tagedieb. Herrlich.
Der weitere Weg gestaltet sich dann länger als angekündigt, zeitweise fehlt die
– ansonsten sehr gute – Beschilderung, ich laufe den „Leiterberg“ hinauf
und weiß nicht recht, ob das nun der richtige
Weg ist, er erscheint mir eher rätselhaft. Irgendwann kommt mir jedoch doch jemand
entgegen, eine einheimische Frau, die ich fragen kann. Sie ist nett und
bestätigt das, ihr Hinweis „Des isch aber no weit!“ gehört dann aber nicht
unbedingt zur Kategorie „hilfreich“.
Auf der letzten Stunde fängt es zu regnen an, aber das ist mir ziemlich egal,
denn ich bin gut ausgerüstet. Und außerdem kenne ich inzwischen wieder den Weg.
Im Quartier muss ich wieder umziehen, weil
eine neue 16er-Gruppe eingetroffen ist, ins nächste Matratzenlager, und ich
lerne kurz Reiner oder Rainer aus der Gegend von Ravensburg kennen. Wir reden
eine Weile, es ergibt sich dann aber beim Abendessen und auch nicht beim
nächsten Frühstück die Gelegenheit, weiter zu sprechen. Ermutigt durch die Frau
von gestern gehe ich auch heute wieder relativ früh zu Bett.