Das verlassene Tal
Eher kurz entschlossen bin ich bei meinem jüngsten Besuch in
Rohracker ins Bußbachtal eingebogen. Eigentlich hatte ich bereits alles
gesehen, was ich hatte sehen wollen, es ging jetzt nur noch darum, wie ich
zurück auf die Höhe nach Sillenbuch komme.Dann wollte ich aber doch noch mal den Ort sehen, wo die
alte Turnhalle stand und das Zwangsarbeiterlager war. Und wenn man den sehr
kurzen Weg „Im Bußbachtal“ hinter sich gebracht hat und um die Ecke in Richtung
Süden, also bergan blickt, meint man (zumindest zur herbstlich-winterlichen
Zeit) fast immer noch, Leid, Trauer und Tränen spüren zu können. Es ist ein enges, steiles, dunkles, düsteres, abgelegenes,
weitestgehend unbesiedeltes Tal. Am Horizont sind nur Bäume zu erkennen, man
könnte meinen, hier befände sich ein „Ende der Welt“. Es wirkt auch heute noch
wie ein abgetrenntes „Tal der Tränen“.
Beim Blick in die Geschichte dieses Ortes erscheint diese
Einschätzung allerdings nicht ganz gerecht, schließlich hegte die Bevölkerung
einige Hoffnungen für dieses Tal. So erschuf der Arbeiter-Verein Turnerbund
Rohracker 1911 in alleiniger Kraft eine Turn- und Versammlungshalle, auf deren
Erstellung die Bevölkerung über lange Jahre stolz war. Dieser Ort war für
einige Jahrzehnte einer der Plätze, an dem sich das Dorf zu diversen
Veranstaltungen getroffen hat, er war sozusagen einer der Orts-Mittelpunkte. In
den frühen 1930er Jahren sollten ebenfalls in jenem Tal ein Fußballplatz und
ein Freibad gebaut werden. Das scheiterte letztendlich an den Besitzverhältnissen.
Da wollte wohl nicht jeder sein Stückle hergeben. Ebenfalls über Jahrzehnte gab
es in jenem Tal eine Gärtnerei, mindestens bis in die 1970er Jahre hinein. 1933 wurden durch die Nazis die diversen Arbeitervereine
Rohrackers zwangsaufgelöst, und die Halle kam in städtischen Besitz. In den
letzten Kriegsjahren (eine genauere Datierung ist bisher nicht möglich) wurden
in jener Halle Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion einquartiert, die dort
unter schlimmen Umständen gelebt haben müssen. Es sind einerseits bedauernde
Äußerungen von früheren Bewohnern Rohrackers dazu überliefert, andererseits ist
aber auch bekannt, dass sich zumindest einzelne Bewohner Zwangsarbeiterinnen
für die Gartenarbeit „geholt“ haben. (An dieser Stelle sollte man es sich sicher
nicht zu leicht machen und einfach aus heutiger Sicht darüber urteilen.
Allerdings ist es sicherlich erlaubt zu spekulieren, dass das ein Grund dafür
sein könnte, dass die einheimische Bevölkerung bis heute sehr ungern auf dieses
Thema angesprochen wird)
Die alte Turnhalle wurde 1965 nochmals renoviert, mit dem
Beschluss des Umzugs von Schule und Turnhalle ins Tiefenbachtal 1970 dann aber
geräumt (und im Anschluss offenbar abgetragen).1977 bezog die einige Jahre zuvor neu gegründete Tennis-Abteilung
des SKV Rohracker an gleicher Stelle ihre erste Heimstatt, 1985 folgte ein
Vereinsheim. Heute stehen dort weiterhin ein Clubheim und zwei Tennisplätze –
inzwischen zum vor wenigen Jahren neu gegründeten Verein „Sportkultur
Stuttgart“, einem Zusammenschluss verschiedener Vereine des Neckartales,
gehörend.
Auch wenn man die diversen Feldwege weiter bergaufwärts
wandert, scheint es lange, als ob es keinen Ausweg aus diesem Tal, allenfalls
die Möglichkeit einer Umkehr gäbe. Dazu kam mir an jenem Tag noch ein Mann entgegen, dessen
Familie schon seit Menschengedenken in Rohracker wohnt. Und der mit seinem
kantigen und markanten Gesicht auch aussieht wie jemand aus einer anderen Zeit. Irgendwann wurden die Feldwege asphaltiert, vielleicht in den 1960er oder
1970er Jahren. Ansonsten hat sich dort aber in den letzten Jahrzehnten nichts
Wesentliches am Erscheinungsbild geändert. Beruhigend für jemanden, der sich
schwer tut mit Veränderungen. Ein einsames, ruhiges, grünes, aber auch etwas
unheimliches und (von allen guten Geistern?) verlassenes Tal.
Labels: Rohracker, Stuttgart, Zwangsarbeit