Tuesday, July 07, 2015

1945 und wir

In den ersten Monaten des Jahres 2015 gab es vielerlei Anlässe, auf das Ende des Zweiten Weltkrieges und damit auch auf das Ende der Nazi-Herrschaft in Deutschland zurückzublicken. In meinem Fall stand das Thema NS-Zwangsarbeit im Vordergrund, durch Besuche verschiedener Veranstaltungen und die Lektüre diverser Bücher bin ich aber auch auf andere Themen gestoßen.
Der Besuch in Sachsenhausen, dem "KZ der Hauptstadt", dem ersten KZ, das planmäßig angelegt wurde, von Albert Speer, der sich später nach Verbüßung seiner Haftstrafe als reinen Karrieristen darzustellen versuchte. Die jahrelange tägliche Quälerei durch Brutalität und Zwangsarbeit aller, die dem Regime nicht in den Kram passten. Bis hin zur Ermordung von vor allem jüdischen Häftlingen und sowjetischen Kriegsgefangenen auch in Sachsenhausen, das kein ausgewiesenes Vernichtungslager war (Ekelerregend aber auch das, was die DDR aus dem Erinnern daran gemacht hat - auf dem Monument ist nur der rote Winkel der politischen Gefangenen zu sehen, die zahlenmäßig stärkere Opfergruppe der Juden blieb außen vor).
Der Besuch einer Veranstaltung zum "doppelten Kriegsende", in der u.a. die These vertreten wurde, die Generalität der Wehrmacht wäre allerspätestens im Januar 1945, nach Scheitern der Frühjahresoffensive, dazu verpflichtet gewesen, dem Regime in die Parade zu fahren und den Krieg zu beenden. "Das ist sehr von heute aus gedacht", wurde dort kritisiert, und es war zunächst auch mein Gedanke gewesen. Die referierenden Militär-Historiker wiesen das zurück und verwiesen auf zahlreiche solcher Beispiele in der Geschichte. Erspart geblieben wären Hunderttausende von Toten von Inhaftierten, Soldaten und Zivilisten, auch die Flächenbombardements deutscher Städte, von der Dresden nur ein Beispiel (und nicht das krasseste) ist. Immer wieder ist daran zu erinnern, dass die NS-Führung zu diesem, auch die deutsche Bevölkerung schonenden Verhandlungs-Frieden nicht bereit war und somit direkt mitschuldig ist an vielen Hunderttausenden Toten auf Seiten der deutschen Zivilbevölkerung. 
Beispiele von krasser alltäglicher Brutalität bei der Lektüre regionalgeschichtlicher Betrachtungen - wenn Juden in Hessen auf dem Land im Zuge der "Kristallnacht" ihr Besitz kurz und klein geschlagen wurde, sie in Schweineställe eingesperrt wurden und ihnen - wenn sie derlei Quälereien überlebten - nur noch die Flucht nach Frankfurt blieb, wo sie durch die Größe und Infrastruktur der jüdischen Gemeinde noch halbwegs geschützt waren, zumindest noch für einige Zeit.
Oder wenn Kommunisten in Berlin-Schöneberg von Nazis bei Auseinandersetzungen auf der Straße die Augen ausgestochen wurden. Und genau diese Nazis ab 1933 freie Hand hatten, ihre Brutalität an den vermeintlichen Volksfeinden in Folterkellern und KZs auszuleben.
Das alles ist massenhaft passiert und diese Dinge waren auch in dem Sinne bekannt, dass sie überlebende Menschen miterlebt haben, die diese Erlebnisse jedoch nicht weitertrugen oder jedenfalls nicht damit durchdrangen. Es scheint so, als kämen diese Berichte erst jetzt, 70 Jahre und mehr später, so geballt zum Vorschein. Norbert Frei hat im Buch "1945 und wir" die These vertreten, dass die zunehmende Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und auch die gestiegene Beschäftigung mit seinen Opfern mit dem - salopp gesagt - Wegsterben der Zeitgenossen zu tun hat. Ich stimme dieser These weitgehend zu, auch wenn verschiedene Fragen offen bleiben. Vor allem bleibt ein Unverständnis darüber, dass die überlebenden Opfer - Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten! - sich so wenig zu Wort gemeldet haben, dass die "Volksgemeinschaft" noch bis weit in die Zeit der Bundesrepublik hinein so hegemonial bleiben konnte. Was sind die Gründe dafür? Die reine Übermacht der "Volksgemeinschaft"? Die erfolgreiche Diskreditierung des Kommunismus durch den Ost-West-Konflikt?
Was hat das alles mit uns heute, mit dem Jahr 2015 zu tun, stellte sich mir häufig die Frage. Die Zeitzeugen, seien es Opfer oder auch Täter gewesen, sind inzwischen weitgehend tot. Die letzten Überlebenden - nicht nur, aber meist im Greisenalter - werden wie Zeugen aus einer fernen Zeit, fast wie Exoten behandelt. Natürlich gibt es weiterhin Rassismus in Deutschland, das ist u.a. in der Frage des Umgangs mit Flüchtlingen zu spüren, und manches, was da keifernd geäußert wird, ist nichts anderes als widerlich ("Verlust der humanen Orientierung", würde das Giordano wohl nennen). Auch was bzgl. "Pegida" passiert, erinnert teilweise an das, was Rafael Seligmann in seinem essayistischen, für mich durchaus überzeugenden Buch "Hitler. Die Deutschen und ihr Führer" über den Aufstieg der Nazi-Bewegung schreibt - wenn alte Werte-Systeme sich auflösen und "individuell unbeherrschbare Veränderungen" (...) "viele Menschen verschrecken" (S. 53) und sie sich begeistert dem anschließen, der einen Schuldigen für das alles zu nennen wagt. Alle Versuche, diese "-GIDA"-Gruppen auszuweiten, sind aber gottlob gescheitert, bei allen Problemen scheint mir das regional und zahlenmäßig begrenzt zu sein. Da stehen - insbesondere in West-Deutschland, aber nicht nur dort - langjährige Aufarbeitungsprozesse vor.
Es sind nicht mehr massenhaft diese knietiefen, unterschwelligen Reste einer Nazi-Ideologie zu spüren oder wenigstens zu erahnen wie in den Jahren, als Leute wie ich Kinder waren, also in den späten 70er und 80er Jahren. Deutschland hat sich durchgreifend geändert, es ist modern, es ist aufgeklärt, es ist europäisch geworden. Es ist auch allein durch die Zuwanderung längst nicht mehr so homogen, wie es die Nazis hinterlassen haben (in den Gegenden, in denen das nicht geschehen ist, hallo Dresden, hallo Sachsen, sieht das leider anders aus, aber wie oben erwähnt, halte ich das letztendlich für überschaubar). Es ist in den 70 Jahren ein deutlicher Bruch entstanden, und das ist natürlich auch sehr gut so. 
Mich einerseits ausführlich mit der NS-Geschichte zu beschäftigen, mich andererseits aber im Jahr 2015 zu bewegen, machte mir jedoch zunehmend Schwierigkeiten, ich brachte das nicht mehr zusammen. Es ist das Gefühl, sich wie schizophren in zwei verschiedenen Zeiten zu bewegen. Ohne dass die Erkenntnisse bei der Betrachtung der Jahre bis 1945 etwas in Bezug auf heute bringen könnten.
Ein Versuch, wieder eine Verbindung herzustellen, ist aktuell, mich mit den Jahren zwischen 1945 und jetzt zu beschäftigen, und ich kaufte mir vor einigen Wochen das Buch "Die zweite Schuld. Von der Last Deutscher zu sein" von Ralph Giordano, dessen Memoiren ich bereits vor wenigen Monaten gelesen und auch hier rezensiert hatte. Anders als ursprünglich gedacht wurde es bereits 1987, nicht im Jahr 2000 geschrieben. Meine Taschenbuchausgabe aus dem Jahr 2000 ist nur ein weitgehend unveränderter Nachdruck. Sie bildet somit weitgehend den Diskussionsstand von 1987 ab, und es wird schnell deutlich, dass auch diese Debatten inzwischen glücklicherweise historisch, also weitgehend vergangen sind. Giordano, der als Sohn einer jüdischen Mutter selbst die letzten Nazi-Jahre im Versteck leben musste, argumentiert leidenschaftlich, aber strukturiert und nie ungerecht, ihm ist aber noch ein starker Gegenwind von rechter Seite anzumerken. Im Vorwort bemerkt er selbst, dass die Goldhagen-Debatte und die Auseinandersetzungen um die Wehrmachts-Ausstellungen in den 1990ern viel im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands bewirkt haben. Sicher zurecht weist er unbescheiden darauf hin, dass sein Buch gewisse Begriffe gesetzt hat, wie "Die zweite Schuld", oder "Der verordnete Antifaschismus" für das, wie die DDR mit der NS-Vergangenheit umgegangen ist.
Zum Buch zu einem späteren Zeitpunkt mehr. Es hat auf jeden Fall schonmal ein Stück weit geholfen, beide Zeitabschnitte wieder näher miteinander in Verbindung zu bringen, weil es Einblicke in die Zeit dazwischen gibt. Die Frage, was 1945 mit uns heute noch zu tun hat, bleibt für mich aber weiterhin virulent.
 

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