Tuesday, February 06, 2018

Ralph Giordano: Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr

Ich bin hier auf Sizilien so unfähig wie nirgends sonst, nur in der Gegenwart zu denken. Die Wahrheit ist, dass die Vergangenheit überall mitlebt.(S. 95*)
Giordanos rund 300 Seiten langer Reisebericht lässt Gedanken an einen ausgiebigen Urlaub auf Sizilien aufkommen: es muss doch ein Traum sein, sich die Insel zu erlaufen, um die karge Landschaft mit den imposanten Bergen, die ich zuletzt unter anderem im Film „Der Sizilianer“ bestaunte, und das Leben dort ausgiebig kennenzulernen. Aber warum eigentlich gerade Sizilien, was soll all der Häckmäck um Sizilien?  Hätte man nicht auch auf der Schwäbischen Alb eine rauhe, naturgeographisch und historisch interessante Gegend mit spannenden, rätselhaften Geschichten…? Und das in relativ naher Entfernung, ohne eine fremde Sprache erlernen zu müssen?
Im Jahr 2002 machte sich Ralph Giordano im Alter von 78 Jahren auf den Weg nach Sizilien, um einem Teil seiner Familiengeschichte nachzugehen. Sein Großvater war einst von dort, genauer gesagt aus der Kleinstadt Riesi, nach Hamburg gezogen. Er beschreibt in Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr ausführlich die Eindrücke, die er von der Insel und auch in Kontakten mit den Bewohnerinnen und Bewohner gewinnt. Es ist das erste nicht-politische Buch, das ich von diesem 2014 verstorbenen Autoren lese. Ich schätze seine Art, leidenschaftlich und mit klarem Standpunkt, dabei aber niemals unfair und ohne eventuelle Einwände zu übergehen, zu argumentieren. In diesem Reisebericht muss er nicht viel argumentieren, gegen niemanden anschreiben. Seine Schilderungen aus Sizilien empfinde ich auch nicht als große Literatur, aus seinen teilweisen Halbsätzen sprechen aber seine Begeisterung und Ergriffenheit. Und wie im Eingangszitat deutlich wird, achtet er häufig auf Dinge, die auch mir wichtig sind.
Giordano hat ideale Voraussetzungen für eine Sizilien-Reise, nämlich einen mit ihm lange bekannten Fahrer, der ihm zeitgleich als Übersetzer dienen kann. Besser geht es nicht, denn genau diese beiden Probleme hat man als Sizilien-Reisender: wie bewegt man sich abseits der Bahn- und Busstrecken durch das Land, insbesondere durch die ländlichen Gegenden, und was macht man ohne ausreichende Italienisch-Kenntnisse?
Zu zweit fahren beide durch weite Teile der Insel – ich führe hier nun nur die Städte und Gegenden auf, die mich (teilweise neu, teilweise wieder) neugierig gemacht haben: die Nekropole Pantalica bei Siracusa, das „Tal der Tempel“ bei Agrigent, die Tempeltrümmer bei Selinunte und Segesta. Dazu der Ätna. Corleone. Palermo. Die Berge bzw. Bergketten: Madonie, Monti Nebrodi, Monti Peloritani. Als 78-jähriger bestieg er übrigens nicht mehr den Ätna und sah sich auch die Berge nur von Autoparkplätzen aus an.
Auch die Liparischen Inseln besucht er. An der Hauptinsel Lipari fährt er eher nur vorbei, echauffiert sich dabei über die Hässlichkeit – seinerzeit wurde der Bims im Nordosten der Insel noch abgebaut; dass er das „ein Bild, das weh tut“ nennt, „als würde der Natur die Haut abgezogen“ (S. 247), erscheint mir verständlich. Heutzutage gibt es ja nur noch die Hinterlassenschaften des 2007 endgültig beendeten Abbaus zu sehen, die schrittweise zu wuchern. In Ginostra auf der Insel Stromboli verbringt er schließlich mehrere Tage.
Einen besonderen Anteil nehmen die Schilderungen aus Riesi ein, der Kleinstadt im Süden der Insel, in der er schließlich sogar zum Ehrenbürger ernannt wird. Böse gesagt ist das im Einzelnen für den Leser nicht weiter interessant. Die intensiv geschilderten persönlichen Kontakte mit Einheimischen lassen aber an eigene Italien-Erlebnisse denken, an besondere Einblicke, die man nur in befreundeten Familien oder durch andere Einheimische gewinnt.
Natürlich ist es Humbug, das rund 25.000 qm große Sizilien mit der knapp 6.000 qm umfassenden Schwäbischen Alb vergleichen zu wollen. Auf Sizilien ist das Wetter besser, insbesondere wärmer und sonniger als auf der Schwäbischen Alb. Der Historienschatz ist weitaus reichhaltiger. Die Insel wird zudem von einem noch existenten Meer umgeben und hat einen weiterhin aktiven Vulkan zu bieten. Der dem Leben auf Sizilien Giordano zufolge einen besonderen Groove, eine besondere Form von Unruhe verleiht.
Es muss also doch wieder Sizilien samt Lipari sein, auch wenn es (noch?) keine „Heimkehr“ für mich sein wird. Und für das Italienisch-Problem sollte es doch irgendwann auch eine Lösung geben…
*Seitenangaben beziehen sich auf die Erstauflage von 2002, Verlag Kiepenheuer & Witsch.

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